Fehlende Gesundheits-Versorgung für Menschen ohne Papiere verletzt EU-Recht

Menschen ohne Papiere oder Versicherung haben in Deutschland nur eingeschränkten oder keinen Zugang zur Gesundheitsversorgung. Zahlreiche NGOs haben deshalb Beschwerde bei der EU-Kommission eingereicht.

Die Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) hat eine förmliche Beschwerde bei der Europäischen Kommission eingereicht. Darin rügt sie die aufenthaltsrechtliche Übermittlungspflicht in § 87 Aufenthaltsgesetz. Die Datenweitergabe an die Ausländerbehörde halte Menschen ohne Papiere in Deutschland davon ab, ihr verfassungs- und europarechtlich verbürgtes Recht auf eine ärztliche Versorgung in Anspruch zu nehmen, so die GFF in einer Pressemitteilung vom 25. August 2021.

Breites Bündnis unterstützt Beschwerde gegen Deutschland bei der EU-Kommission

Die Beschwerde bei der EU-Kommission wird von über 30 Organisationen unterstützt, darunter Ärzte der Welt, campact, Pro Asyl, das Bündnis Seebrücke und die Deutsche Aidshilfe.

Zwar haben laut Asylbewerberleistungsgesetz auch Menschen ohne geregelten Aufenthaltsstatus in Deutschland einen Anspruch auf eine medizinische Grundversorgung.[1] Sobald sich eine bedürftige Person aber an die Sozialbehörde wendet, um den dafür erforderlichen Behandlungsschein zu erhalten, droht ihr die Abschiebung. Denn die Sozialbehörde ist, wie andere staatliche Stellen auch, durch den Paragrafen 87 des Aufenthaltsgesetzes dazu verpflichtet, Menschen ohne Papiere an die Ausländerbehörde zu melden.

Übermittlungspflicht nach § 87 Aufenthaltsgesetz verletzt Menschenrecht auf Gesundheit

Aus Angst vor einer Abschiebung meiden Betroffene daher den Gang zu Ärzt*innen. Die Folgen: lebensbedrohliche Erkrankungen bleiben unbehandelt, Schwangere können nicht zur Vorsorgeuntersuchung gehen, Covid-19-Infektionen werden nicht diagnostiziert.

„Die Übermittlungspflicht ist unionsrechtswidrig und gehört dringend auf den Prüfstand“, sagt Sarah Lincoln, Juristin bei der GFF. „Gewisse Mindeststandards dürfen in der EU nicht unterschritten werden – und dazu gehört ein Mindestmaß an medizinischer Versorgung.“

Auch das europäische Datenschutzrecht wird verletzt

Mit der Beschwerde an die Europäische Kommission rügt die GFF nicht nur eine Verletzung des Rechts auf ärztliche Versorgung und Gesundheitsvorsorge nach Artikel 35 der EU-Grundrechtecharta, sondern auch eine Verletzung des europäischen Datenschutzrechts.

Eine Zweckentfremdung von Daten erlaube die Datenschutzgrundverordnung nur in Ausnahmefällen, insbesondere muss die zweckändernde Datenweitergabe notwendig und verhältnismäßig sein. Das ist hier nicht der Fall, denn die Übermittlungspflicht verfehlt ihren Zweck. Anstatt irreguläre Aufenthalte aufzudecken, schreckt sie Menschen davon ab, ihr Grundrecht auf Gesundheitsversorgung wahrzunehmen.

Petition fordert Einschränkung der Übermittlungspflicht

„Das Recht auf eine medizinische Mindestversorgung ist eng mit der Menschenwürde verknüpft und steht jedem Menschen zu – unabhängig vom Aufenthaltsstatus“, sagt Lincoln. „Wir dürfen nicht zulassen, dass in Deutschland hunderttausende Menschen keinen Zugang zu ärztlicher Versorgung haben und selbst Kinder keine ärztliche Behandlung erhalten“.

Das Kampagnenbündnis #GleichBeHandeln, zu dem auch die Deutsche Aidshilfe gehört, fordert daher in einer Petition eine Einschränkung der Übermittlungspflicht für den Gesundheitsbereich. Diese Forderung unterstützen bereits über 22.000 Menschen mit ihrer Unterschrift.

Hintergrund

Deutschland sei schon mehrfach international für die aufenthaltsrechtliche Übermittlungspflicht im Gesundheitswesen kritisiert worden, so die GFF.

Auch die Europäische Grundrechteagentur bewerte die medizinische Versorgung von Menschen ohne geregelten Aufenthaltsstatus in Deutschland kritisch und fordere, genauso wie das Europäische Parlament, eine Trennung der Einwanderungskontrolle von der Gesundheitsversorgung.

Die Bundesregierung habe jedoch zuletzt im Mai 2021 in ihrem Rechenschaftsbericht zum UN-Frauenrechtsausschuss erneut ausdrücklich abgelehnt, den Paragrafen 87 des Aufenthaltsgesetzes anzupassen.

Wie geht es weiter?

Die EU-Kommission prüft die Beschwerde innerhalb von 12 Monaten. Stellt die Kommission einen Verstoß gegen EU-Recht fest, kann sie ein förmliches Vertragsverletzungsverfahren einleiten.

(hs)

Quelle/weitere Informationen

Pressemittelung der Gesellschaft für Freiheitsrechte vom 25.8.2021

Studie der GFF zum Recht auf Gesundheit von Menschen ohne geregelten Aufenthaltsstatus: https://gleichbehandeln.de/wp-content/uploads/2021/05/210504_RZ_GFF_Studie_Recht-auf-Gesundheit_screen_DS.pdf

Seite des Kampagnenbündnisses #GleichBeHandeln mit Petition zur Einschränkung des § 87 Aufenthaltsgesetz

Krank und ohne Papiere – Lösungen für ein verborgenes Problem (Beitrag auf magazin.hiv vom 12.8.2021)

Rechtswidrige Barrieren (Beitrag auf magazin.hiv vom 1.4.2021)

 

[1] Paragraf 1, Absatz 1, Nr. 5 in Verbindung mit den Paragrafen 4 und 6 des Asylbewerberleistungsgesetzes