Studie: Was brauchen Sexarbeiter*innen für ihre Gesundheit?

Eine qualitativ-partizipative Studie zu den gesundheitlichen Bedarfen von Sexarbeiter*innen in Deutschland

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Zwei Jahre lang hat sich die Deutsche Aidshilfe im Rahmen einer partizipativen qualitativen Studie mit den Bedarfen von Sexarbeiter*innen auseinandergesetzt. Auf dieser Seite fassen wir die Ergebnisse zusammen und präsentieren die Empfehlungen. Unten finden Sie auch Kontaktmöglichkeiten.

Sie können den Forschungsbericht, eine PDF-Datei mit der Zusammenfassung und den Empfehlungen der Studie sowie die Pressemitteilung der Deutschen Aidshilfe vom 10.04.2024 im unten stehenden Download-Bereich herunterladen. Den Forschungsbericht können Sie auch in gedruckter Form über den Versand der Deutschen Aidshilfe kostenlos bestellen.

Zusammenfassung

Hintergrund:

Sexarbeiter*innen bilden keine homogene Gruppe. Ihre Lebenslagen sind sehr divers, sie haben unterschiedliche geschlechtliche Identitäten und die Kontexte, in denen sie der Sexarbeit nachgehen, sind äußerst vielfältig. Gemeinsam ist ihnen, dass sie sexuelle Dienstleistungen gegen Geld oder andere Formen der Entlohnung erbringen. Weltweit sind sie in besonderem Maß Stigmatisierung, Gewalt und Kriminalisierung ausgesetzt, was ihre Vulnerabilität für HIV und andere sexuell übertragbare Infektionen (STIs) deutlich erhöht.

Die Studie:

In Deutschland gab es bislang keine Studie, die sich mit den gesundheitlichen Bedarfen von Sexarbeiter*innen befasst und dabei die Diversität der Gruppe hinsichtlich der geschlechtlichen Identität und der Vulnerabilitätsfaktoren ausreichend berücksichtigt. Aus diesem Grund führte die Deutsche Aidshilfe von April 2022 bis April 2024 ein partizipatives Forschungsprojekt mit dem Ziel durch, ein besseres Verständnis der unterschiedlichen Bedarfe von Sexarbeiter*innen in Bezug auf Gesundheit, dabei insbesondere auf HIV/STI-Prävention, zu erzielen. Das Projekt wurde vom Bundesministerium für Gesundheit gefördert.

Zehn Peer-Forscher*innen setzten deutschlandweit elf Fokusgruppen in fünf Sprachen um. Fokusgruppen sind moderierte Gruppen-Gespräche, bei denen eine Gruppe von Personen durch Informations-Inputs und Fragen zur Diskussion über ein bestimmtes Thema angeregt wird. Die Gespräche werden aufgezeichnet, verschriftlicht und ausgewertet. An den Fokusgruppen nahmen insgesamt 80 weibliche und männliche (cis und trans) sowie nicht-binäre Sexarbeiter*innen teil, die in diversen Kontexten (Straße, Escort, Prostitutionsstätten) arbeiteten und aus insgesamt 23 Herkunftsländern stammten. Unter ihnen waren Sexarbeiter*innen, die illegale Drogen konsumieren („Beschaffungsprostitution“), Schwarze Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter*innen mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen. Eine Besonderheit der Studie ist die hohe Diversität des Samples. Die Studienteilnehmenden befanden sich in unterschiedlichen Lebenslagen und gingen aus unterschiedlichen Motivationen heraus der Sexarbeit nach. Ihre Offenheit hat es ermöglicht, dass relevante Ergebnisse zu einer großen Bandbreite an Themen gewonnen werden konnten. Die Fokusgruppen wurden mithilfe der Methode der Qualitativen Inhaltsanalyse in einem partizipativen Prozess ausgewertet, an dem die Peer-Forscher*innen und ein interdisziplinär zusammengesetzter Projektbeirat beteiligt waren.

Ergebnisse:

Die Ergebnisse dieser Studie widerlegen die in öffentlichen Diskursen verbreitete dichotome Unterteilung in „unfreiwillige Prostituierte“ und „selbstbestimmte Sexarbeiter*innen“. Die Studienteilnehmenden beschreiben äußerst komplexe und vielfältige Empfindungen und Einstellungen gegenüber ihrer Tätigkeit und benennen sowohl Vor- als auch Nachteile. Allen gemeinsam ist, dass sie über die Tätigkeit als Arbeit sprechen. Sexarbeit wird von vielen als Ressource verstanden – in dem Sinne, dass sie für sie die beste oder einzige Möglichkeit darstellt, Geld zu verdienen und damit den eigenen Lebensunterhalt und in manchen Fällen auch den ihrer Familien zu sichern.

Die aus den verschiedenen Fokusgruppen hervorgehenden Bedarfe unterscheiden sich voneinander. Insgesamt zeichnen sich vier Kernprobleme ab, die das Leben von Sexarbeiter*innen erschweren und sich negativ auf ihre Gesundheit auswirken können:

  • Gewalterfahrungen und Angst vor Gewalt (zum Beispiel durch Kunden und Anwohner*innen),
  • Finanzielle Prekarität und existenzielle Not,
  • Belastungen psychischer Art, die oft in Zusammenhang mit erlebter Stigmatisierung stehen,
  • Kriminalisierung und fehlende Legalität – beispielsweise, wenn sie ohne gültige Anmeldung nach Prostituiertenschutzgesetz (ProstSchG) arbeiten, in Sperrbezirken arbeiten, keinen legalen Aufenthaltstitel besitzen und/oder gegen das Betäubungsmittelgesetz verstoßen. Daraus folgend haben viele Studienteilnehmende Angst vor Polizei und Behörden.

Wenn eines oder mehrere dieser vier Kernprobleme und die daraus resultierenden Herausforderungen im Vordergrund stehen, können sich Sexarbeiter*innen nicht prioritär und meist nicht ausreichend um den Schutz ihrer Gesundheit kümmern.

Gleichwohl sprechen viele Studienteilnehmende dem Thema sexuelle Gesundheit eine hohe Bedeutung zu. Sie wünschen sich mehr Informationen, insbesondere zur HIV-Prä-Expositionsprophylaxe (PrEP), einer medikamentösen Schutzmethode vor HIV, und zur HIV-Postexpositionsprophylaxe (PEP), einer Notfallmaßnahme zum Schutz vor HIV nach einem Übertragungsrisiko. Fast die Hälfte der Befragten hatte vor der Teilnahme an der Studie noch nie von der PrEP gehört, ein weiterer Teil verfügte nur über vage Kenntnisse. Die PrEP erscheint vielen Studienteilnehmenden als eine vorteilhafte Safer-Sex-Methode und mögliche Professionalisierungsmaßnahme. Diverse Bedenken gegenüber der PrEP sowie Medikamenten-Einnahme im Allgemeinen waren jedoch auch weit verbreitet.

Viele Studienteilnehmende beobachten, dass zunehmend Sex ohne Kondom nachgefragt wird. Einige beschreiben, wie dieser Trend, verbunden mit der Verschlechterung ihrer finanziellen Situation, sie unter Druck setzt. Dadurch steigt die Angst bei Sexarbeiter*innen, sich mit HIV und STIs zu infizieren. Zu diesem Gefühl tragen Erfahrungen mit gerissenen Kondomen und Stealthing1 bei – genauso wie das Wissen darum, dass Kondome nicht zu hundert Prozent vor STIs schützen.

Einrichtungen des Öffentlichen Gesundheitsdienstes spielen für die sexuelle Gesundheit von Sexarbeiter*innen eine wichtige Rolle, insbesondere durch die kostenlosen und anonymen HIV/STI-Untersuchungsangebote nach § 19 Infektionsschutzgesetz.

Eine zentrale Hürde vieler teilnehmenden Sexarbeiter*innen ist ein fehlender Krankenversicherungsschutz. Die Ergebnisse der Studie unterstreichen die Notwendigkeit, dass alle Menschen Zugang zur Krankenversicherung und alle Menschen mit HIV Zugang zur HIV-Therapie bekommen. Damit Sexarbeiter*innen von der PrEP profitieren können, sollte diese häufiger in Gesundheitsämtern, etwa auf Privatrezept, angeboten werden. Für die Verbesserung der Gesundheit von Sexarbeiter*innen sind auch strukturelle Veränderungen notwendig, die ihre Sicherheit und ihre Chancen auf ein selbstbestimmtes Leben erhöhen. Dazu gehören zum einen der Ausbau von Sozialarbeit und Beratung sowie das Schaffen von Räumen für den Peer-to-Peer-Austausch unter Sexarbeiter*innen. Zum anderen braucht es an Kunden gerichtete Präventionsmaßnahmen – etwa eine Kampagne zur Förderung von Respekt, fairen Preisen, der Nutzung von Kondomen sowie zur Aufklärung zu HIV/STIs.

1 Stealthing bezeichnet das unabgesprochene Abziehen des Kondoms beim Sex.

Diese Grafik stellt die in den Fokusgruppen identifizierten negativen und positiven Einflussfaktoren auf die Gesundheit von Sexarbeiter*innen dar. Vergrößern per Mausklick.

Kernempfehlungen

Diese qualitative Studie über die Bedarfe von Sexarbeiter*innen in Deutschland hat ernstzunehmende Probleme offenbart und aufgezeigt, wie Sexarbeit mit gesundheitlichen Risiken einhergehen kann. Die Ergebnisse machen deutlich, wie groß der Bedarf nach strukturellen Veränderungen ist. Die Rahmenbedingungen müssen dringend verbessert werden, um eine sichere, selbstbestimmte und gesunde Ausübung der Sexarbeit zu ermöglichen. Dazu stellen wir im Folgenden elf Empfehlungen vor. Diese wurden aus den Ergebnissen der Fokusgruppen abgeleitet und mit dem Projektbeirat sowie den Peer-Forscher*innen entwickelt.

Kontakt

Eléonore Willems, Projektleiterin

Haben Sie Fragen zur Studie? Wenden Sie sich gern an mich.
E-Mail: eleonore.willems@dah.aidshilfe.de