Russland: HIV-Organisationen erstmals als „Auslandsagenten“ eingestuft
Wie die Nachrichtenagentur AFP gestern berichtete, hat Russland zwei führende HIV-Präventionsorganisationen des Landes auf die schwarze Liste für „ausländische Agenten“ gesetzt.
Darin können seit 2012 russische Nichtregierungsorganisationen geführt werden, die aus dem Ausland finanzielle Unterstützung erhalten und sich an nicht näher definierten „politischen Aktivitäten“ beteiligen.
Neben bislang rund 130 Menschenrechts- und Umweltorganisationen sind davon nunmehr auch HIV-Präventionsprojekte betroffen.
So wurden im Juni sowohl Esvero, ein Dachverband von Organisationen, die gegen die HIV-Epidemie in Russland vorgehen, als auch die Andrey-Rylkov-Stiftung für Gesundheit und soziale Gerechtigkeit vom russischen Justizministerium auf die schwarze Liste gesetzt.
Beide Organisationen halten Angebote zur Schadensminderung beim Drogenkonsum vor, die Andrey-Rylkov-Stiftung betreibt das einzige Drogenberatungs- und Spritzentauschprogramm Moskaus. Bereits im Februar sind laut AFP kleinere regionale HIV-Präventionsgruppen in Sibirien und Zentralrussland ebenso auf der Liste für „ausländische Agenten“ gelandet.
„Was für eine Art Agenten sollen wir denn sein?“, äußerte sich Maxim Malyshev von der Andrey-Rylkov-Stiftung gegenüber AFP. „Wir gehen jeden Tag auf die Straße, um jenen Mitbürgern zu helfen, die unter ihrer Drogenabhängigkeit leiden und vom Staat im Stich gelassen wurden.“ Rund 5.000 Menschen habe man im vergangenen Jahr helfen können und fast 700 Beratungsgespräche zu HIV, Hepatitis und Drogenkonsum geführt, bilanziert die Organisation in einer Pressemitteilung.
Das russische Justizministerium allerdings betrachtet die Stiftung als politische Organisation. Begründet wird diese Entscheidung unter anderem mit deren Beteiligung an der weltweiten Kampagne „Support Don’t Punish“ zur Entkriminalisierung und Unterstützung von Drogenkonsument_innen und an einem offenen Brief des Eurasian Network of People Who Use Drugs (ENPUD).
Die Folgen dieser staatlichen Brandmarkung als „Auslandsagenten“ – so wurden in der Sowjetära bereits Dissident_innen bezeichnet – zeigten sich schon jetzt, so Elena Romaniak von Esvero. Innerhalb kürzester Zeit hätten bereits fünf Partnerorganisationen die Zusammenarbeit aus Angst vor möglichen Folgen aufgekündigt. Ohne diese Zuwendungen ist nun fraglich, wie Esvero die Arbeit fortsetzen kann. „Wir würden uns ja gerne allein durch Mittel aus Russland finanzieren, doch fünf Anträge auf öffentliche Gelder wurden bereits abgelehnt“, betonte Elena Romaniak. Die Andrey-Rylkov-Stiftung hat nun angekündigt, gegen die Entscheidung des Justizministeriums klagen zu wollen.
Mit einem 2012 in Kraft getretenen Gesetz hatte die russische Regierung ihren Kurs fortgesetzt, den Bewegungsspielraum zivilgesellschaftlicher Organisationen weiter massiv einzuschränken: Wenn diese Gelder aus dem Ausland erhalten, müssen sie sich als „ausländische Agenten“ registrieren, regelmäßige Kontrollen über sich ergehen lassen und mit öffentlichen Diffamierungen rechnen. Anfang vergangenen Jahres wurde das Gesetz dahingehend geändert, dass das Justizministerium NGOs nun auch ohne ihre Zustimmung und ohne langatmige Gerichtsverfahren in das Register für „ausländische Agenten“ eintragen kann.
Dass angesichts steigender HIV-Raten nunmehr Präventions- und Harm-Reduction-Initiativen das Aus droht, sei fatal, erklärte Romaniak. Die Behandlung sei in Russland teurer denn je und es gebe mehr und mehr HIV-Infizierte und Aids-Fälle.
Statt auf international bewährte Maßnahmen und Mittel der HIV-Prävention wie zum Beispiel Aufklärung, Sexualerziehung, Kondome und Harm-Reduction-Angebote für Drogenkonsument_innen setzt die konservative Regierung in Russland gemeinsam mit der orthodoxen Kirche auf Werbung für sexuelle Enthaltsamkeit und „traditionelle familiäre Werte“. Darüber hinaus werden Drogenkonsument_innen massiv an den gesellschaftlichen Rand gedrängt, Opiatabhängige haben keinen Zugang zur Substitutionstherapie – diese ist in Russland verboten.
Nach offiziellen Angaben hat sich die Zahl der HIV-Infektionen in Russland seit 2010 verdoppelt und ist mittlerweile auf eine Million gestiegen. Allerdings gehen HIV-Aktivist_innen von einer noch wesentlich höheren Prävalenz aus. Laut Vadim Protrovsky, dem Leiter des Nationalen Aids-Zentrums in Moskau, der die HIV-Epidemie unlängst als „nationale Katastrophe“ bezeichnete, habe es allein im letzten Jahr 100.000 HIV-Neuinfektionen gegeben. Innerhalb der nächsten fünf Jahre könnte die Gesamtzahl der Infektionen auf das Dreifache steigen, so Potrovsky gegenüber der AFP.
(ascho/Christina Laußmann)
Quellen/weitere Informationen:
Bericht der Nachrichtenagentur AFP in der „Econimic Times“
Presseerklärung der Andrey Rylkov Foundation
Erklärung des Eurasian Harm Reduction Network